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  • AutorenbildKatharina Kahl

Kooperation vs. Integrität

Aktualisiert: 17. Feb. 2020

In meinem letzten Blog-Beitrag habe ich zu Gehorsam und Ungehorsam geschrieben. Gehorsam könnte man mit Kooperation gleichsetzen, denn ich stelle jeweils eine Bitte an eine Person und erwarte von ihr, dass sie mit mir kooperiert. Das funktioniert in der Regel auch gut, denn wir Menschen sind von unserem ursprünglichen Wesen her auf Beziehungen ausgelegt und diese funktionieren am besten, wenn man miteinander kooperiert. Kooperation funktioniert aber nicht, wenn in unserem ursprünglich angelegten Wesen aufgrund einer Bitte oder Aufforderung etwas angeschlagen wird, das sich wie ein Hindernis zwischen die Bitte und unsere Kooperationsbereitschaft stellt.

In diesem Fall geraten wir in einen Loyalitätskonflikt. Auf der einen Seite steht unsere Loyalität zum Bittsteller, der unsere Kooperation erwartet. Auf der anderen Seite steht unsere Loyalität zu uns selbst, unseren Werten, Bedürfnissen und Wünschen. Diese Loyalität zu uns selbst heißt Integrität.

In der oben beschriebenen Situation gibt es nun zwei mögliche Handlungsoptionen: Entweder wir verleugnen unsere eigenen Werte, Bedürfnisse oder Wünsche und kooperieren mit der Bitte unseres Gegenübers oder wir bleiben uns selbst treu und schlagen die Bitte aus. Beide Wege klingen zwar im ersten Moment unbefriedigend, müssen es aber keineswegs sein.


Für alle Beziehungen, ob Freundschaft, Partnerschaft, Familie oder gar berufliche Beziehungen ist es ab und zu wichtig, "über den eigenen Schatten zu springen". Wenn es "nur" unsere eigenen Wünsche und Bedürfnisse sind, die der Bitte entgegen stehen, können und sollten wir grundsätzlich bereit sein, mit unserem Gegenüber zu kooperieren. Denn es stärkt die Beziehungen, wenn ich "trotzdem" kooperiere. Das heißt nicht, dass man das immer tun sollte, aber man sollte abwägen, ob die Kooperation möglich ist, ohne sich selbst in seinen eigenen Wünschen oder Bedürfnissen zu schaden. Bei Werten sieht das schon anders aus, denn Werte sind ein grundlegender Bestandteil unserer Persönlichkeit. Wo wir unsere eigenen Werte für eine andere Person verleugnen, schaden wir uns selbst.

Es ist nicht unmöglich, "nein" zu sagen, selbst wenn es harmoniebedürftigen Menschen oft so scheint. Tatsächlich schadet es einer Beziehung sogar, wenn man zu einer Bitte "Ja" sagt bzw. kooperiert, obwohl man lieber "Nein" gesagt hätte, denn die innere Verbindung geht dabei verloren. Nach dem Konzept der Gewaltfreien Kommunikation von Marshall Rosenberg ist das Nein zur Bitte des Anderen gleichzusetzen mit dem Ja zu den eigenen Bedürfnissen. Im christlichen Bereich zitiert man häufig die Aussage Jesu: "Du sollst den anderen lieben wie dich selbst.". Das bedeutet aber beides: Den Blick auf den anderen ebenso wie den Blick auf sich selbst. Wenn man also einer Bitte nicht entsprechen kann oder will, weil es den eigenen Wünschen, Bedürfnissen oder Werten in nicht akzeptabler Weise widerspricht, ist der einzig gesunde Weg das Nein, wobei die eigenen Bedürfnisse als Begründung für den anderen ausreichen müssen und sollten.


So herausfordernd das bei Beziehungen zwischen erwachsenen Personen ist, so unmöglich scheint diese Vorgehensweise bei Beziehungen zu Kindern. Bis etwa 4 Jahren sind diese noch gar nicht in der Lage, die Perspektive von anderen einzunehmen. Manche brauchen dafür sogar noch wesentlich länger. Umso wichtiger ist es für die erwachsene Person, die eigenen Bedürfnisse genauso wie auch die des Kindes im Blick zu haben. Häufig tun wir Erwachsenen aber so, als hätten Kinder noch gar keine eigenen Bedürfnisse und fordern den ganzen Tag ihre Kooperation: aufstehen, fertig machen, Kindergarten oder Schule, Hausaufgaben, Nachmittagsprogramm, Essen ("was auf den Tisch kommt"), Schlafen und alles, was an Terminen noch dazwischen kommt. Wenn dann ein Kind "Nein" sagt und das auf die Art und Weise, wie es seiner Meinung nach am besten Gehör bekommt, dann ist das seine einzige Möglichkeit zu sagen: Nein, denn ich habe ein Bedürfnis, einen Wunsch und Werte, die dem entgegen stehen. Fordern wir dann die Kooperation, ohne uns mit diesem Nein auseinander zu setzen, verletzen wir die Integrität des Kindes. Und wo das häufig geschieht, signalisieren wir dem Kind, dass seine eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Werte, seine eigene Integrität unwichtig sind. Das sind keine guten Voraussetzungen, um eine starke und selbstbewusste Persönlichkeit herauszubilden. Unterstützen wir unsere Kinder aber, indem wir versuchen, ihre Bedürfnisse hinter dem Nein zu verstehen und auf sie einzugehen, helfen wir ihnen dabei, ihre eigene Integrität zu wahren und ihre Persönlichkeit zu stärken.Übrigens gehört es für Kinder auch dazu, dass sie lernen, die Bedürfnisse der Erwachsenen zu achten. Das können sie auch schon früh lernen, wenn man ihnen feinfühlig dabei hilft und ihnen authentisch begegnet.

Fazit: Kooperation ist für gelungene Beziehungen ebenso wichtig wie die Wahrung der eigenen Integrität. Wir können ebenso mit gutem Gewissen Ja zu einer Bitte sagen, die uns eigentlich nicht so gut passt, wie wir Nein sagen können, um unsere Integrität zu wahren.

In Familien ist Kooperation genauso wichtig wie die Ausbildung und Wahrung der jeweils eigenen Integrität.

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